Kurzgeschichten – spannende, dramatische und unterhaltsame Erzählungen aus dem Deutsch Leistungskurs von Frau Gneuß

Im Modul „Literatur und Sprache um 1900 – Neue Ausdrucksformen der Epik” erhielten die Schüler/ -innen die Aufgabe, unter Verwendung von Elementen des  Erzählens  schriftlich zu erzählen. Das Thema und den Inhalt betreffend, waren die Schüler/-innen bei ihrer Wahl frei. Entstanden sind sehr gelungene  Kurzgeschichten, die nun wöchentlich veröffentlicht werden. Viel Spaß beim Lesen!

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Caspar David Friedrich - Wanderer über dem Nebelmeer (1817)

Wanderer über dem Nebelmeer (1817), Caspar David Friedich. Quelle: SHK/Hamburger Kunsthalle/bpk Foto: Elke Walford

Kein Ausweg? (Erzählung von Nathalie Urban)

Sie war schon wieder zu spät. Das dritte Mal in dieser Woche erschien Marie nun zu spät bei ihrer Arbeit, die sie eigentlich über alles liebte. Es war schließlich ihr Traumberuf und sie hatte lange auf den Job in diesem Kunstatelier hingearbeitet, doch nun kam sie immer zu spät. Jetzt kam auch noch ihre Chefin, die ihr erneut eine Standpauke hielt, jedoch hörte Marie kaum hin. Sie war abgelenkt, weshalb sie auch zu spät kam. Aber sie konnte den wahren Grund ihrer Verspätung nicht nennen, da sie sonst wahrscheinlich auch noch ihren Job verlieren würde, nachdem sie bereits alles verloren hatte. Um eben diesen Grund zu verschweigen, log sie -erneut-, diesmal sagte sie, dass ihr Auto nicht angesprungen sei. Natürlich vollkommener Schwachsinn, ihr nagelneuer Audi A4 fährt einwandfrei, aber auf die Schnelle ist ihr nichts Besseres eingefallen. Mit einem Kopfschütteln entließ ihre Chefin sie und sie beeilte sich, in ihr Büro zu kommen. Genauso wie die letzten drei Arbeitstage, an denen sie zu spät kam, zog sich dieser auch hin und wollte einfach nicht zu Ende gehen. Eigentlich wünschte Marie sich auch, dass er nicht zu Ende geht, weil sie sonst wieder in das Grauen, das sich hinter ihrer Wohnungstür versteckt, zurückkehren musste. Und das auf der Stelle. Die Person, die sich dahinter verbirgt, erduldete nämlich keine Verspätungen und wollte so viel Zeit wie möglich mit Marie verbringen. Aber auch dieser Arbeitstag ging vorbei. Durch die Abwesenheit ihrer Gedanken, die permanent bei ihrer Wohnung und dieser Person waren, hatte Marie wieder nichts geschafft, was ihre Arbeit betraf. Sie hätte Kunden, die Bilder gekauft hatten, anrufen müssen, sie hätte Rechnungen schreiben müssen, sie hätte nach neuen Bilder Ausschau halten müssen, die sie in dem Atelier verkaufen können, aber all diese Sachen hat sie nicht geschafft. Marie saß acht Stunden lang vor ihrem ausgeschalteten PC und hatte ihn angestarrt. Sie hatte die Hoffnung, dass sich alle Probleme, die sie hat, einfach in Luft auflösen würden und sie ab morgen wieder normal arbeiten, essen, leben könnte. Die bittere Einsicht, dass dies nicht geschehen war, traf Marie wie ein Schlag. Sie wollte nicht in ihr sogenanntes zu Hause fahren, weil es im Gegensatz zu dem, was es sein soll, nämlich ein vertrauter und sicherer Ort, ein Ort des Schreckens für Marie war. Aber sie musste. Er wollte es so. Vor zwei Monaten war noch alles normal, sie war eine junge glückliche Frau, hatte einen perfekten Freund, eine gute Beziehung zu ihren Eltern, sie telefonierten täglich, doch dann kam er. Er hat ihr Leben ruiniert, es irgendwie hinbekommen, dass sich sowohl ihr Freund als auch ihre Eltern und alle anderen Freunde von ihr abgewendet hatten, sodass sie nur noch ihn hatte. Nun sollte Marie wieder zu ihm, am besten auf schnellstmöglichen Weg, sie lief aus dem Atelier und wollte direkt zu ihrem Auto. Das hat er ihr geschenkt. Aber ihre Füße bewegten sich nicht zu dem Auto, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Sie sollte dies nicht tun. Sie sollte wieder zu ihm. Schnell. Sonst wird ihr etwas Schlimmes passieren. Doch ihre Beine und Füße gehorchten nicht. Marie wollte ihr Leben wiederbekommen, sie wollte nie wieder in ihre Wohnung zurück. Sonst ging sie freitagabends mit ihrem Freund essen, ins Kino oder mit ihren besten Freundinnen feiern. Letzteres wird sie nun tun, sie wird endlich wieder feiern gehen. Leben. Auch ihr Körper hatte genau dies vor: wieder anderen Menschen begegnen außer ihm oder ihren Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen. Wieder Musik hören und feiern. Mit Menschen, die sie nicht kannte, den Abend verbringen und neue Kontakte knüpfen. Jedoch war es noch nicht so spät, sodass wahrscheinlich noch kein Club offen war. Marie beschloss also, wieder zurück ins Atelier zu gehen und dort alles, was noch anstand und alle Aufgaben, die sie eigentlich heute tun musste, doch noch abzuschließen. Nach drei Stunden war sie fertig, sie hatte nicht nur alle Dinge, die zu erledigen waren, geschafft, sie hatte sogar schon die Aufgaben für die nächsten Tage vorbereitet. Ihn ignorierte sie, er hatte schon oft angerufen, sowohl auf ihrem Handy als auch auf der Arbeit direkt. Sie musste sich jetzt beeilen, er wird sicher bald auftauchen und sie holen. Also ging sie schnell wieder in Richtung ihres Lieblingsclubs, zu dem sie vorhin schon gehen wollte. Sie war eigentlich gar nicht passend für eine Party gekleidet, hatte nur eine schlichte schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt an, aber dies war mittlerweile irrelevant. Sie hätte sich heute Morgen auch etwas anderes angezogen, zum Beispiel ihr dunkelblaues Kleid, ihr Lieblingskleid. Aber er kontrollierte nicht nur ihre Freunde und Kontakte, sondern auch ihre Wohnung und auch ihre Kleidung. Er hatte alles zerstört oder weggeworfen. Auch hohe Schuhe waren für ihn völlig inakzeptabel, wahrscheinlich, weil sie dann größer als er wäre. Er wollte sich ihr immer überlegen fühlen, auch was die Körpergröße angeht anscheinend. So blieb Marie nichts anderes übrig als Jeans und Shirts oder Pullover. Dies sollte aber bald ein Ende haben. Mittlerweile war der Club offen und Marie kam ohne Probleme, auch mit ihrem nicht so eleganten Outfit hinein. Direkt beim Eintreten kam ihr ein gewohnter vermisster Geruch entgegen. Es roch wie damals schon nach Alkohol, Zigaretten und Schweiß. Hinzu kam ein wildes Gemisch aus verschiedensten Parfümen. Mal Süßliches, mal Herbes und mal ein blumiger Duft kamen ihr entgegen. Im Inneren des mittlerweile gut gefühlten Nachtclubs erschlug sie die laute Geräuschkulisse. Sie hörte die Musik, es wurde gerade ein Song gespielt, den sie nicht kannte, wahrscheinlich ein kürzlich neu erschienener. An der Bar tummelten sich Menschen, die den Barkeeper bedrängten und schnellstmöglich einen guten alkoholischen Drink bekommen wollten, es wurde getanzt, gesungen und gelacht. Genauso hatte Marie diesen Club in Erinnerung. Die Freiheit strömte durch alle Adern ihres Körpers. Sie konnte endlich wieder tun, was sie wollte und musste nicht auf das gehorchen, was er sagt. Er hatte sich in ihr Leben gedrängt, sie abhängig von ihm gemacht und alles verboten. Aber dies wollte sie jetzt, zumindest für einen Abend, vergessen, hier und jetzt. Deshalb bewegte Marie sich durch die tanzende Menschenmenge an die Bar und bestellte ihr Lieblingsgetränk: Sex on the Beach. Nachdem dieser in schnellen und großen Schlücken leergetrunken wurde, bestellte Marie noch einen und bewegt sich wieder durch die Ansammlung der Menschen hindurch zu den gegenüberliegenden Sitz- sowie Stehmöglichkeiten. Dies war auf jeden Fall ihr Plan, aber sie wurde auf einmal von hinten angerempelt und festgehalten, sodass sie nicht fiel. Nur wenig ihres Getränks landete auf ihrem Shirt und ihren Schuhen. Marie drehte sich um und sah eine sehr hübsche junge Blondine vor sich. Diese begann, nachdem sie sah, dass das Getränk nun vermehrt auf dem Shirt von Marie zu finden war, sich übertrieben oft zu entschuldigen und bot Marie an, die Toiletten aufzusuchen, um zumindest das Gröbste des süßen Getränks rauszubekommen. Aber dies gelang nicht so wirklich, die Fremde wollte sich bei Marie mit einem weiteren Sex on the Beach revanchieren, aber dazu kam es nicht, weil Maries Handy klingelte. Es war wieder er. Er hatte sie mittlerweile fast dreißig Mal versucht zu erreichen. Er wird richtig sauer sein. Und auch die Fremde schien verunsichert zu sein und ging mit der Begründung, sie wolle sich ihre Jacke holen, weil ihr zu kalt geworden ist. Aber Marie wusste, dass sie nicht wiederkommen wird und sie keinen neuen Drink bekommen wird. So ging sie nun aus dem Club in Richtung ihres Autos. Als sie ihr Auto sah, sah sie auch einen Mann, der sich an diesem anlehnte. Es war er. Ihr war zwar bewusst, dass er früher oder später zu ihrem Arbeitsplatz gehen würde, aber sein Anblick schockierte sie jedes Mal aufs Neue. Er packte sie grob an, schubste sie, forderte sie auf ihm eine Erklärung zu geben. Er zwang sie, sofort in ihr Auto zu steigen und nach Hause zu fahren, er würde in seins steigen und ihr hinterherfahren. So konnte sie nicht verschwinden. Es ist spät, die Straßen waren leer. Sie konnte nicht entkommen. Zu Hause wird er toben, Möbel nach ihr schmeißen, Vasen. Sie konnte ihm nicht entkommen, er wird überall sein, wo sie ist. So gehorchte sie, unterwarf sich und stieg in ihr Auto. Es gab nur noch einen einzigen Ausweg. Sie wusste nicht, ob sie dies tun wollte, war sich unsicher, aber es wird alles besser sein, als weiter so zu leben, wie sie es gerade tut. Sie wird es tun. Auch jetzt reagierte ihr Körper wieder automatisch. Ihr rechter Fuß drückte das Gaspedal voll durch, ihr Arme bewegten das Lenkrad nach rechts. Das Letzte, das sie wahrnahm, ist der immer näherkommende Baum. Dann ein lautes Krachen und nichts. War sie jetzt frei?