Kurzgeschichten – spannende, dramatische und unterhaltsame Erzählungen aus dem Deutsch Leistungskurs von Frau Gneuß

Im Modul „Literatur und Sprache um 1900 – Neue Ausdrucksformen der Epik“ erhielten die Schüler/ -innen die Aufgabe, unter Verwendung von Elementen des  Erzählens  schriftlich zu erzählen. Das Thema und den Inhalt betreffend, waren die Schüler/-innen bei ihrer Wahl frei. Entstanden sind sehr gelungene  Kurzgeschichten, die nun veröffentlicht werden. Viel Spaß beim Lesen!

Streichholz trifft auf Aluhut – von Phillip Ebert

Es war ein gewöhnlicher Freitagnachmittag, zumindest fing er gewöhnlich an. Ich besuchte meine Tante in Osnabrück. Das war sonst nie eine große Sache, aber seit der Pandemie war alles anders, alles war komplizierter. Das alltägliche wurde zum Besonderen, das Selbstverständliche zur großen Geste. Nur die Spinner, die blieben gleich.

So ereignete es sich, dass ich sie auf halbem Wege zur Bushaltestelle erblickte: Die eine Konstante in dieser außergewöhnlichen Zeit. So sehr wünschte ich mir, sie wäre erspart geblieben. Auf derselben Straßenseite, nur wenige Meter vor mir, stand er: der berühmt-berüchtigte, faktenresistente, selbsternannte Retter der Nation, Herr Aluhut. Zugegeben, der tatsächliche Name dieses Mannes war mir nicht bekannt, Aluhut war es vermutlich eher nicht, vor allem deswegen nicht, weil er gar keinen Aluhut trug. Hörte man ihm jedoch zu, was für blödsinnige Ideen er von sich gab, so hätte es seiner Seriosität kein bisschen geschadet, einen Aluhut zu tragen. „Wacht endlich auf!“, schrie er. Gelegentlich probierte er anderen Menschen ins Gesicht zu greifen, als würde er versuchen, ihnen die Masken regelrecht vom Kopf zu reißen. Es war durchaus amüsant, ihn dabei zu beobachten, allerdings hatte ich es eilig. Den Kopf gesenkt versuchte ich unbemerkt an ihm vorbeizugehen. „Du, Streichholz, was hast du zu verlieren?“ Gemeint war ich. Streichholz nannte er mich wahrscheinlich aufgrund meiner rötlich gefärbten Haare. Dies schien der Tag zu sein, an dem mir mein Drang nach Individualität zum Verhängnis werden sollte. Doch es war zu spät. Als ich meinen Blick reflexartig für eine Sekunde auf ihn wandte, wusste er, dass ich ihn wahrnahm. „Ich sag’s dir: Nichts außer deine Ketten!“, fuhr er fort. Ich ging weiter, in der leisen Hoffnung, dass er von mir loslassen und die nächste arme Seele, die ihm über den Weg lief, belästigen würde. Dieser Funken Hoffnung erlisch, als er mir im Schritttempo nachging. Der Spinner wirkte so unberechenbar auf mich, dass mir in diesem Moment nichts Besseres einfiel, als loszurennen. Ich rannte und er mir nach. Er war schnell. Er war schneller als ich, wie ich erschreckend feststellen musste, als ich über meine Schulter sah und merkte, wie er langsam, aber sicher aufholte. Nun war ich fast an der Bushaltestelle. Plötzlich fuhr mein Bus an uns vorbei und hielt an. Mit meiner Busfahrkarte bereits in der Hand stürmte ich zur Eingangstür und dann in den Bus hinein.

Aluhut blieb vor der Tür stehen. Ohne Maske durfte er nicht einsteigen, wenn er es denn überhaupt wollte und nicht nur bluffte. Die Vordertüren des Busses schlossen sich. Ich zog die Maske mit einer Hand runter und holte tief Luft. Von meiner linken hörte ich plötzlich ein Räuspern. Es kam von einem älteren Herrn, welcher mir mit seinen Händen vor seinem Gesicht gestikulierte, ich solle gefälligst meine Maske wieder aufsetzen.

Phillip Ebert